Denn die Zeiten ändern sich  

Die 60er Jahre in Baden-Württemberg

 
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Denn die Zeiten ändern sich

Die 60er Jahre in Baden-Württemberg

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„The Times they are a-changin“, so lautet der Titelsong des 1964 erschienenen gleichnamigen Albums, in dem Bob Dylan einen grundlegenden, noch gar nicht zu erfassenden („for the wheel’s still in spin“) Wandel der Gesellschaft thematisiert. Es ist eines der einflussreichsten, in seiner Wirkung bis heute ungebrochenen Zeugnisse der Protestbewegung der 1960er Jahre. Dylan wird mit diesem Song zum Sprachrohr einer ganzen Generation, die er zum Träger dieses Wandels erklärt. „Your sons and your daughters are beyond your command“, ruft er deshalb den Eltern und den Älteren zu. Wenn diese, gleich ob Eltern, Senatoren oder Autoren nicht mithelfen wollten („if you can’t lend a hand“), dann sollten sie doch wenigstens nicht im Wege stehen und den Wandel blockieren. Wie man sich zu dem grundstürzenden Wandel verhält, ob man jung ist oder nicht, ist also nicht allein eine Frage des Lebensalters, sondern eine der Einstellung oder der inneren Haltung. Rückblickend meinte Bob Dylan in seiner Autobiografie: „Manchmal weiß man, daß sich etwas ändern muß, ändern wird, aber es ist nur eine Ahnung, […]. Unscheinbare Vorzeichen kündigen einen Wandel an, doch sie sind nicht leicht zu erkennen. Und dann gerät auf einmal alles in Bewegung, man springt ins Unbekannte und findet sich in einer anderen Welt wieder, die man instinktiv versteht – man ist befreit.“

Jugendliche sind die Trägergruppe dieses gesellschaftlichen Wandels. Die „Verbindung zwischen einer neuentstehenden, häufig kommerziell vermittelten Jugendkultur und einer politischen Oppositionsbewegung“ kennzeichnet den Liberalisierungsprozess der westdeutschen Gesellschaft. Dies machte die Entstehung einer pluralistischen Gesellschaft möglich, die ein Nebeneinander unterschiedlicher Lebensentwürfe akzeptierte.

Dieser gesellschaftliche Wandel wird als langfristiger Prozess verstanden. Eine Zäsur in der Jugendkultur bildeten die Jahre 1958/1959, als nach dem Abflauen der Halbstarken-Krawalle eine Massenkultur für Jugendliche entstand, die in bewusster Abgrenzung von der älteren Generation neue Lebensstile, ein neues demokratisches Bewusstsein entwickelte und sich eigene Freiräume schuf. Nachdem die materiellen Spielräume bis in das zweite Drittel der 1950er Jahre eng waren und sich im ersten Drittel der 1970er Jahre auf höherem Niveau erneut verengten, öffnete sich dazwischen eine Dekade der unbegrenzt scheinenden Möglichkeiten. „In der Massenkonsumgesellschaft, die existentielle Sicherheit, Wohnung, Nahrung und Bekleidung gewährleistete, richten sich Konsumwünsche auf eigentlich Entbehrliches, dessen Besitz relativ frei kombinierbar ist und durch Geschmack bestimmt wird.“ Es ging nicht nur um Luxusgüter, sondern um die Einrichtung und Ausstattung der Wohnung, Beschaffenheit des Essens, Stoff, Stil und Marke der Kleidung. Erst durch die Kombination aus Überschuss und freier Wählbarkeit entstand eine pluralistische Gesellschaft, die eine Differenzierung der Lebensstile ermöglichte.

Auch in Baden und Württemberg haben die langen sechziger Jahre zwischen 1958 und 1973, als die Ölkrise das Ende des Wirtschaftsbooms ankündigte, Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlassen. Dennoch waren viele Jugendliche von damals der Meinung, im Süden sei nichts los gewesen, „nichts als öde Städte, trostlose Dörfer und dumpfes Leben“, die Musik habe in Berlin gespielt. Christoph Wagner, der beste Kenner der Rock Pop, Blues und Folkszene – nicht nur in Baden Württemberg – konstatiert: „Einer nach dem anderen verschwand, ob aus Aalen, Lörrach, Wiesloch oder Zußdorf“, nicht nur um dem Wehrdienst zu entgehen. Denn auch viele Frauen zog es in die Mauerstadt. Berlin galt als alternatives Eldorado. Pop- und Rockkonzerte, Demos, Droge, Kommunen und Partys, so die Kunde, dort war was.

Wenn man also im Südwesten lebte, musste man lang auf diese Angebote warten. Discotheken und Kinos waren dünn gesät. „Die Wüste der Provinz zwang zu eigenem Handeln. Passives Konsumieren war – im Gegensatz zur Großstadt – keine Option. Weil es hier im Freizeitbereich nichts zu konsumieren gab, galt es seine Kulturangebote selber zu schaffen. Die subkulturelle Jugendszene musste selbst die Initiative ergreifen und zum Konzertveranstalter, Programmkino und Diskussionsanreger werden.“

Ruhig blieb es also auch in Baden-Württemberg nicht. Und das galt nicht nur für die Musik. Die Nachricht vom Tod des Studenten Benno Ohnesorg, der am 2. Juni 1967 am Rande der Anti-Schah-Demonstration von einem Polizeibeamten erschossen worden war, veranlasste Studierende in Konstanz und Heidelberg zu Mahnwachen. Die amerikanischen Bombenangriffe auf die vietnamesische Bevölkerung erregten in Heidelberg besonders heftige Proteste, da sich dort das Hauptquartier der US-Armee in Europa befand. In Freiburg und Heidelberg zählten gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei zum Alltag, in Karlsruhe, Stuttgart und Tübingen verliefen die Kundgebungen etwas ruhiger.

Die Ausstellung „Denn die Zeiten ändern sich“ zeichnet nach, wie der Südwesten weltoffener und pluralistischer wurde. Sie stellt sechs Bereiche vor, in denen sich der soziokulturelle Wandel manifestierte.

Songtexte aus den 1960er Jahren empfangen den Besucher im Eingang zur Ausstellung. In den Lyrics von Bob Dylan, den Beatles, den Rolling Stones, von Jimi Hendrix oder von Joy Fleming werden die Ideen und Gedanken der langen sechziger Jahre erlebbar. Nicht nur der Text von Scott McKenzie’s Hymne der Hippie Bewegung „If you’re going to San Francisco. Be sure to wear some flowers in your hair“ evoziert zugleich auch die Musik, die viele und nicht nur die Zeitgenossen sofort im Ohr haben werden.

Damit betreten die Besucher eine raumumfassende mediale Installation aus Filmfragmenten der langen sechziger Jahre. Sie bilden eine audiovisuelle Chronologie, welche die sechs Themenbereiche rahmt. Politisch-kulturelle Meilensteine der 1960er Jahre wie die Berliner Rede von John F. Kennedy, Martin Luther Kings Vision „I have a dream“, die Eröffnung des „Starclubs“ in Hamburg oder das legendäre Festival in Woodstock in den USA werden hier filmisch zitiert und erweitern die regionale Perspektive um die nationale und internationale Ebene.

Vor der Projektionsfläche ist eine Bühne aufgebaut. Auf ihr treten die Exponate als Protagonisten der Zeit auf. Die erste Ausstellungseinheit stellt den „Klang der Revolte“ vor. Hier werden mit Beispielen aus Baden-Württemberg die Musikstile vorgestellt, die im Laufe der langen 1960er Jahre mit Jugendprotest, Distanzierung von der Elterngeneration und politischer Devianz assoziiert wurden bzw. diese Phänomene beförderten. Raritäten wie eine Aufnahme vom Jimi-Hendrix-Konzert in der Stuttgarter Liederhalle am 19. Januar 1969 finden ihre Fortsetzung auf der Bühne. Hier steht der Stuhl, auf dem Jimi Hendrix Platz genommen hatte, als er den freien Tag vor dem Konzert nutzte, um im Stuttgarter Musikhaus Schweizer das Equipment seiner Band zu komplettieren. Eine Ikone der Musikgeschichte ist das Jimi-Hendrix-Plakat, das den Gitarrengott als Medusa zeigt, der an Stelle der mythologischen Schlangen Stromkabel aus dem Kopf wachsen. Der Stuttgarter Claus Böhm, der als 16-Jähriger das Konzert besuchte, hat das Plakat – ein auseinandergefaltetes Programm – aufbewahrt. Eine Besonderheit dieses Posters ist das Autogramm von Jimi Hendrix, das Claus Böhm seinem Idol auf die Wange geklebt hat. Ein Bekannter seiner Eltern, ein Handelsvertreter für Schallplatten, hatte ihm geholfen an diese begehrte Unterschrift zu kommen. Am unteren Rand des Plakats hat Böhm später das Todesdatum von Hendrix ergänzt: 18. September 1970. Auffällig ist, dass Frauen als Protagonistinnen der Musikszene kaum eine Rolle spielen, abgesehen von einzelnen Sängerinnen wie der bekannten Mannheimerin Joy Fleming.

Die Abteilung „Geschlechterverhältnisse“ widmet sich der Rolle von Frauen und Mädchen in der Jugendkultur. Die Wand, die die Bühne zum Besucher abschirmt, zeigt ein kleines Objekt, das eine große Wirkung entfaltete: Die Antibabypille, die ab 1961 die Verhütung erstmals ganz in die Hand der Frau legte.

Gezielte Tabubrüche seitens der Schüler- und Studentenbewegung trugen zur Neubewertung der Geschlechterverhältnisse bei. In Schülerzeitungen und Flugblättern wurden die offizielle Sexualmoral untergraben und die Grenzen des „Sagbaren“ verschoben. Ein Indiz für die Verschiebung der Toleranzgrenzen war die (Teil-)Legalisierung homosexuellen Geschlechtsverkehrs 1969.

Die Aufweichung von Sexualnormen bedeutete aber noch keine bahnbrechenden Veränderungen im Verhältnis von Männern und Frauen. Selbst in der sich revolutionär gebärdenden Studentenbewe-gung wurde eine Machokultur gepflegt und die Rolle der Frau als „Nebenwiderspruch“ abgetan. Auch die Diskriminierung von Homosexuellen war für viele „Linke“ kein Thema.

Das wachsende Selbstvertrauen junger Frauen manifestierte sich nicht zuletzt im Bereich der Mode. Die Bühne verwandelt sich hier in einen Laufsteg. Indische Hemden, Batikröcke und bodenlange Maxikleider zeigen, wie die Hippiebewegung auch im Südwesten angekommen ist. Das Défilé wird angeführt von einem roten Minikleid, das eine junge Abiturientin aus dem kleinen Ort Oberkollwangen bei Bad Teinach zur Abiturfeier 1972 trug. Damit war Mary Quants Minirock aus London in der baden-württembergischen Provinz angekommen. Auch wenn er wahre Proteststürme auslöste, setzte sich der Mini langfristig in allen sozialen Schichten durch. Auch in der Mode änderten sich also die Zeiten. Und die ganze Welt schaute auf London, wo es wieder die Jugend war, die das Ruder übernommen hatte. Stuttgarter Schüler pilgerten in das Mode-Mekka. Hinzu kamen amerikanische Einflüsse wie Jeans und Schlaghosen mit „Stars and Stripes“-Muster.

Die kulturelle Affinität Jugendlicher zu den USA ging einher mit einer zum Teil heftigen Ablehnung der amerikanischen Politik, insbesondere in Vietnam. Der Bereich „Sage Nein“ zeigt die Eroberung des öffentlichen Raums für die Artikulation abweichender Meinungen in den 1960er Jahren. Die Bühne gehört nun den Protestbewegungen. Einige Dutzend Plakate und Transparente haben ihren Auftritt.

Den Auftakt machten die ersten Ostermärsche ab 1958, es folgten Demonstrationen im Zuge der Spiegel-Affäre und die vehementen Proteste gegen den Vietnamkrieg ab 1966. Auch die von der studentischen Jugend angeprangerte Presse- und Machtkonzentration – verkörpert durch „Springer-Presse“ und Große Koalition – bot Angriffsflächen für Studenten und Schüler der 1960er Jahre, die nicht länger bereit waren, die von der „Wirtschaftswundergesellschaft“ reklamierte Zurückhaltung im öffentlichen Raum und – damit einhergehend – den Verzicht auf kollektiv inszenierten und artikulierten Dissens „mitzuspielen“.

Der Bereich „Provokation, Eskalation und die Frage der Gewalt“ thematisiert, wie die jugendlichen Provokateure – insbesondere in den Universitätsstädten – die verschiedenen Spielarten der „begrenzten Regelverletzung“ erprobten und dabei auch sukzessive öffentliche Bereiche der Städte – wie die Straße, den Hörsaal und, im Zuge der sich zuspitzenden Konflikte zwischen der APO, Polizei und Stadtverwaltungen, schließlich auch den Gerichtssaal als Schauplatz von Justizkampagnen – zu besetzen versuchten.

Ulrich Bernhardt, Student der Kunstakademie, protestierte im November 1967 mit einem gemalten Mao-Porträt und der Parole „Enteignet Springer“ vor dem Königsbau am Stuttgarter Schlossplatz gegen die Springer-Presse. Eine Hälfte dieses drei Meter hohen zerlegbaren Gemäldes wurde bei einer Präsentation in den 1980er Jahren gestohlen. In der Ausstellung wird das erhaltene Fragment mit Hilfe einer Filminstallation wieder „vervollständigt“.

Die junge Generation eroberte Räume – wortwörtlich: Bei der Party zuhause, im Jugendclub, beim Beatkonzert in der Stadthalle, auf der Straße. Die Ausstellung wirft in der Abteilung „Freiräume“ einen Blick hinein in die politischen und unpolitischen Clubs. Auch im Bereich der Jugendkultur entstanden zumindest Grundlagen für veränderte Rollenmuster. Mädchen waren in der Beat- und Rockszene in erster Linie als „Fans“ männlicher Musiker präsent. Durch ihre Teilhabe an der neuen Jugendkultur, indem sie auf Konzerte und Partys gingen und sich auf der Tanzfläche präsentierten, nabelten sie sich aber ein Stück weit von der elterlichen Kontrolle ab und entwickelten Selbstvertrauen. Ein völlig neues Lebensmodell für private Freiräume waren Wohngemeinschaften. Das Vorbild für politisch motivierte Wohngemeinschaften war die Kommune 1, die im Januar 1967 in Berlin gegründet wurde. Auch wenn sie weniger als drei Jahre bestand, half sie doch, eine ganze Generation zu politisieren. Briefe von jungen Frauen und Männern, beispielsweise Gewerbeschülern, aus Untermusbach, zeigen, dass die Kommune 1 auch in Baden-Württemberg eine Art Sehnsuchtsort war.

Die Zeiten haben sich geändert zwischen 1958 und 1973, auch im deutschen Südwesten. Im Spiegel der Regionalgeschichte können globale Trends besonders lebendig nachvollzogen werden, und man kann nachprüfen, ob sich auch die Baden-Württemberger im Bob-Dylanschen Sinn „befreit“ haben.


Prof. Dr. Paula Lutum-Lenger
Ausstellungs- und Sammlungsleiterin
Haus der Geschichte Baden-Württemberg

Auftraggeber

Haus der Geschichte Baden-Württemberg

Ort

Stuttgart

Jahr

2017

Leistungen

Ausstellungsarchitektur

Konzeption

Fotografie

Daniel Stauch